Kulturlotse

Salon der Träume – „Artists for Tolerance“

Veröffentlicht am 13. März 2024 von Kulturlotsin Ulrike

Eine Bühne in magischem Blau, Tänzer bewegen sich anmutig durch die Nacht. Nein, das ist keine Bar. Sondern eine Kirche, „Kleiner Michel“ genannt. Ein ebenso friedfertiger wie Kunst-freudiger Ort, künstlerischer Salon, Traumfabrik und Zeitspiegel in einem. Heute mischen die „Artists for Tolerance“ die Kirche auf, junge, ambitionierte Künstler aus der Hochschule für Musik und Theater und dem Hamburg Ballett. „Wir brauchen alle bisweilen etwas Schönes!“ Gräfin von Hardenberg, Koordinatorin und stetiger Impuls des Formats, das 3 – 4mal jährlich angeboten wird, spricht den Besuchern aus der Seele. Nicken. Ja, unbedingt, bei all dem Schrägen in der Welt. Was wohl heute drin ist im Geschenke-Päckchen des nunmehr 10. Salons? Wie von Zauberhand füllen plötzlich Flötenklänge den Raum: Julia Guggemos und Henrike Kathe von der HFMT locken mit Leo Delibes Blumen-Duett den Frühling herbei. Verzückte Dé­jà-vus steigen auf: „Das ist ja wie…“ - genau! - das Märchen aus 1000 und einer Nacht. 


In dieser persischen Saga becirct die kluge Scheherazade Nacht für Nacht den König mit ihren fantasievollen Geschichten. Er, der aus Rachsucht Frauen ermordete, wird süchtig nach der Schönen und das Töten hört auf. Märchen klingen oft grausam, sie sind keine Steilvorlage, doch es liegt eine geheime Botschaft in ihnen: Scheherazade erfindet sich immer neu. Entfacht Kunst, Lebenslust, Sinnlichkeit. Oh ja, so etwas wollen sie auch, die Besucher im kleinen Michel. Und da kommt es auch schon um die Ecke, ihr Märchen, eine locker-flockige 2024-Version der 1001 Nacht. Zwei Absolvent:innen der Theaterakademie verleihen der uralten Story Comedy-Pokal-Qualität: Lara Eilo aus Syrien spielt die Scheherazade mit Witz und einer Prise Sozialkritik, Lori Brückner ihre pfiffige kleine Schwester. Wie in „Aladins Wunderlampe“ sind hier auch drei Wünsche frei. Doch was will Scheherazade? Insta-Influencerinnen aufgepasst, keine glitzernde Clutch, nein, „nur“ Glück für die Menschheit. Überhaupt: könnten nicht einfach alle sein wie ein Esel? Der zettelt keine Kriege an und verfolgt höchstens eine Möhre. Oder - wie wäre es mit dem Naturell einer Stubenfliege? „Sssss!“, selig summt sie herum – köstlich gespielt von Lori Brückner – und hat ansonsten nichts Schlimmes im Sinn. Gern dürfte zudem etwas mehr Lächeln deutsche U-Bahnen erhellen. Herz eben. Ok, stimmt, der Norden tut sich bisweilen etwas schwer mit überbordenden Gefühlsäußerungen. Reicht vielleicht auch ein herzhaftes: „Moin!“? Mitgefühl gibt´s aber auch: “Heute kein Franzbrötchen gehabt?!“ Scheherazades Gedanken treten zeitweise simultan zweisprachig auf, lebendig wie der Pfingst-Geist, der Sprach-Genies generiert. Und wusch, schon sind sie wieder weg, die schillernden Theater-Bilder.

Foto: © Gräfin Kirsten Hardenberg


Tanzen ist ... Alles auf Anfang


Ein junger Mann im weißen Oversized-Hemd springt auf die Bühne, Lasse Caballero vom Hamburg Ballett. Einer der Jungen Choreografen dieser renommierten Institution, die noch abends nach 7 Stunden Probe ihre eigenen Werke entwerfen. Sein Stück „Dilemma“, so die Botschaft ans Publikum, ist die große unbändige Sehnsucht nach dem Tanz. Schon wird seine Choreografie lebendig: drei Tänzer-Kolleg:innen formieren akrobatische Modern Dance-Muster, umkreisen und trennen sich wieder. Harmonie spricht aus dem Trio, Vertrautheit, vielleicht ein Proben-Szenario. Doch dann wird alles anders. Am Horizont taucht eine Ballerina (Paula Iniesta) auf, entrückt wie eine Fata Morgana. Im klassischen Outfit - Tutu und Spitzenschuhen – trippelt sie auf die drei zu. Und sofort bricht ihre Welt auseinander. Drängende Dynamik umwirbt die Ballerina, die beiden Jungs (Lennard Giesenberg und Francesco Cortese) sind bemüht, sie einzufangen, krönen ihr Haupt wie eine Blüte, heben sie himmelwärts. Zweifellos, das ist sie, die Göttin der Kunst. Das zweite Mädel (Nathalia Gómez) schwebt in anrührender Fragilität um die andern herum, möchte teilhaben an der künstlerischen Aura. Diese Tanzsprache ist so unmittelbar, Tanz-Besessene verstehen sie sofort, sie kennen es gut, das unentwegte Streben nach Perfektion. Das Pünktchen Stabilität, das der Pirouette noch fehlt. Kraft, Ausdruck, Grand-Jetés könnten besser sein, Tränen auf dem Heimweg, am nächsten Tag wieder hin, von vorn. Und dennoch - es gibt nichts Schöneres.


Nach Tanz-Akkuratesse ist nun Relaxen angesagt. Wie ein wohliger Teppich breitet sich orientalische Opulenz zwischen den Kirchen-Bänken aus, das HFMT-Flöten-Duo spielt Wunderbares aus Klassik und Romantik. Der große impressionistische Klang-Maler Debussy ist dabei, erzählt vom kühlen Hain, in dem pittoreske Pfauen zum Wasser schreiten. Aus Mozarts Zauberflöte schwappt der Vogelfänger frisch-frech gute Laune in den Saal. Dann ist sie plötzlich wieder da, schöner als je zuvor, die Scheherazade, in Rimsky-Korsakows „The Young Prince and The Princess“. Ein Zauber strömt aus dieser Musik, eine einzige Aufforderung zum Tanz. Ach, könnte man sich doch so geschmeidig biegen, mit diesem verlockenden Lächeln und Sich-wieder-Entziehen hinter duftigem Schleier wie die wunderbare Madoka Sugai aus dem Hamburg Ballett.

Foto: © Ulrike Korb


In die weiche Stimmung flutet unvermutet ein Schwall von Gefühlen, Francesco Corteses Stück „Hard to feel“ bricht sich Bahn, taumelt, flirtet, liebt, streitet und findet sich wieder. Der junge Choreograf war bereits in John Neumeiers umjubeltem, fantastisch neu besetztem Klassiker „Romeo und Julia“ zu sehen, als übermütig sprung-gewaltiger Benvolio. Langsam bewegen sich nun zwei Tänzerinnen aus dem dunklen Kirchenschiff nach vorn zur Bühne. Eine der beiden gibt dort oben die unnahbare Diva (Hannah McClaughan), die von der anderen (Paula Iniesta) umschmeichelt wird. Vergeblich. Irgendwann, irgendwie sind sie doch Freundinnen geworden, hängen zusammen in Kneipen ab, im wahrsten Sinne des Tanzes. Ein Traum, der leider nicht verweilt, etwas muss passiert sein: Verrat, Social Media Mobbing, Tratsch. Die Diva heimst eine Ohrfeige ein, entschwindet, die Freundin bleibt verzweifelt am Boden liegen. Schon wieder eine neue Schleife im Auf und Ab des Lebens: ein Verehrer (Lennard Giesenberg) nähert sich dem Mädchen mit zarten Avancen, der Himmel öffnet sich im innigen Pas de deux. Jedoch nur kurz, Verletzung und Streit sind wieder da, ungebetene Gäste. Doch - Aufatmen, er kommt zurück, nimmt sie behutsam in den Arm.... Schluss. Tosender Beifall. Ein Abend voll grandioser Kunst, Elan und Empathie. Doch er ist längst nicht zu Ende, es gibt noch ein Sahne-Häubchen, das Salon-Gespräch mit den Künstlern im Gemeindehaus. Schauspiel-Kurator Tristan Lindner jongliert geschickt zwischen Moderation, Smalltalk und Sekt-Entkorken, die Stimmung steigt. Die beiden Flötistinnen treten seit 7 Jahren zusammen auf, erzählen sie lächelnd. Das merkt man, ihr Spiel ist Harmonie pur. Die Jungen Choreografen strahlen, es ist ihr Ein und Alles, eigene Spuren in der Kultur zu hinterlassen, in einem Salon wie diesem.


Und warum sind da diese Molltöne in ihrem Stück? Bedeuten sie eine desillusionierte Sicht auf das Leben? Lasse Caballero, der im Hamburg Ballett unter anderem als träumerisches Einhorn in John Neumeiers dramatischer „Glasmenagerie“ auftrat, weiß eine allumfassende Antwort: Große Kunst hat immer auch ein Fragezeichen. Damit sich etwas Neues öffnet im Betrachter. Typisch für die Friedensmission im kleinen Michel, die bis auf den jüdischen Reformator Moses Mendelssohn zurückreicht: hier ist Raum für alle, um einen Happy Anfang für die Welt zu erdenken und zu fühlen. Soviel Schönes an diesem Abend. Rimsky-Korsakows Melodie bleibt auf den Lippen, folgt bis nach Hause und dreht eine Tanz-Runde im Wohnzimmer: Scheherazades Traum.

Foto: © Weronika Cwalina